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Das Loch im Gletscherbauch
publiziert 15.19.2024
Denkbilder Magazin
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Ich habe versucht, die Weisstannen zu zählen. Es müssen Tausende sein. Über ihnen wachen die Gletscher, sie blenden mich, gleichgültig und klar. Ich sehe ihnen beim Schmelzen zu. Wasser lösen sich, ich kann es von hier aus sehen. Sie lösen sich und fliessen in schlanken Rinnsalen langsam, bedächtig fast, über die glatten Schneefelder. Vor Abbruchkanten spannen sich die Bächlein, bis sie in Tropfen brechen, die ploppend in darunter liegende Schattenfelsen fallen. Dort oben müssen versteckte Seen liegen. Die Gletscher spiegeln den Himmel. Eigentlich weiss, aber gleichzeitig gelb und blau und rosa und sie verlieren, je länger ich mich blenden lasse, ihre Klarheit. Vermischen sich mit dem Smog, den meine Gedanken verursacht haben, während ich die Weisstannen gezählt habe. Vermischen sich mit dem Grell, das der Himmel sendet oder die Sonne. Der Himmel spannt sich irgendwo weit oben über den Kranz von Bergrücken, die mich umrunden. Eine Frischhaltefolie, und bei uns unten heizt sich die Umgebung auf. Der Himmel ist blau, aber grau-durchsichtiger Nebel in Schichten zwischen ihm und mir. Das muss das Wetter sein. Eine Farce, eine Milchhaut. Es hat seit Wochen nicht geregnet. Ich nehme die Trübungen in meinen Augen wahr. Floater in meinen zwei kostbaren Glaskörpern. Hauseigene Schlieren vor dem Panorama, Augenmücken lassen sich nicht jagen.
Der Berg, der diese Gletscher trägt, verdient eine Vorstellung. Er ist der höchste des Dreigestirns im Berner Oberland. Wie der zusammengelegte Körper einer ruhenden Frau liegt er da, seine Fühler bis über 4000 Meter über dem Meeresspiegel. Die Jungfrau. Sie ist bekannt für ihre Schönheit, ihre weisse Glasur, die von weitem seltsam weich und überwindbar wirkt. Der Silberhornspitz ist ihre Brust, darunter ihr Herz, zu Stein verwachsen. Die drei Grossen waren einst Riesen, die auf der Wengernalp lebten. Lebten nur für sich selbst. Von einem Berggeist, der auf Wanderschaft nach einem Kessel Milch fragte, verwandelt in Fels und Eis, als Bestrafung für die Verweigerung von Hilfsbereitschaft. Es ist, als könnte ich mit meinen Fingerkuppen über die hochpolierten Flanken der Jungfrau streichen. Sie zerbröckelt erst in tausend Teile, wenn man sich ihr nähert. Mehr Schrunden und Spalten öffnen sich mit jedem Meter, den die Zahnradbahn sich ihr nähert, sich an ihr hochschraubt. Und dann erst wird bemerkbar, dass man an ihr verloren geht. Wenn man von der Wengernalp aus an ihr hochschaut, zerdrückt sie einem den Atem. Es ist kaum auszuhalten. Wenn ich den Himmel jemals berühren sollte, dann von ihrem Gipfel aus. Erst von dort aus begreift man, was Täler sind. Sie sind die Lücken zwischen dem Erhabenen. Um den Tälern das Existenzrecht zu geben, teilte man ihnen Namen zu. Da unten, wo die Menschen wohnen und alles zertrampeln. Da unten, wo die Menschen jeden Stein schon umgedreht und jedes Geheimnis gelüftet haben. Da unten, wo die Menschen vor allem Angst haben, das sie nicht verstehen.
Die Welt über den Bäumen hingegen ist aus Geheimnissen gebaut. Oben, wo die Luft dünn in die Lungenflügel strömt und das Atmen schwerfällt, wo die Pupillen sich erweitern zu schwarzen Murmeln. Dort oben trägt die Jungfrau ein Loch im Bauch. Im Giessengletscher tut sich ein roher Graben auf, eine Mulde. Das Eis türmt sich den Rändern auf, wie sonst nirgends am Berg. Seit Jahrhunderten sprechen die Menschen aus dem Tal über diese Kluft, aber nur hinter vorgehaltenen Händen. Sechzig Meter breit soll die steinerne Lücke, der schwarze Felszahn im Eismantel, sein. In den vergangenen dreihundert Jahren hat sich das Loch immer wieder geschlossen, überflutet vom Gletscher, der wie ein samtenes Band vom Silberhorn her in die Trümmer darunter fliesst. Unerklärbar, über Nacht überzogen mit einer dicken Eisschicht. Sichtbar sogar für die Menschen weit weg zwischen den Seen. Erstmals bemerkt 1701, während der spanischen Erbfolgekriege. Dreizehn Jahre später öffnete sich das Loch pünktlich zum Ende dieser Kämpfe. Der gleiche Graben schloss sich für die Jahre des Siebzigerkrieges und der Weltkriege, während der Kubakrise, vor dem Einfall der russischen Armee in Afghanistan, während dem Iran-irakischen Krieg und der letzten Balkankriege vor mehr als zwanzig Jahren.
Unfähig zu begreifen, gaben ihm die Menschen aus den Tälern den Namen «Kriegsloch». Sie versuchten das Kriegsloch im Bauch der Jungfrau mit Vermutungen zu füllen, die irgendwann zu Wissen wurden. Es schliesst sich immer dann, wenn irgendwo auf der Welt ein Krieg ausbricht. Natürlich ist der Teufel nicht weit. Ich habe ihn selbst gesucht, weit oben. In diesem Loch haust er unter Schutt und Geröll, streckt gemein grinsend seine Nase aus der Nordflanke der Jungfrau und sein Lachen wird vom Föhn ins Tal getragen. Passt auf und lauscht, immer ehrfürchtig, mit einem Auge die Lücke im Blick. Ständig brechen Eisbrocken von der Oberlippe des Hängegletschers. Wenn es den Teufel nicht mehr braucht, das Leid auch ohne seine Hilfe ihre Schneise in der Welt hinterlässt, verzieht er sich zu den Innereien des Berges und schliesst das Tor zur Unterwelt. Hinterlässt nur knisterndes Kristallingestein und das ewige Eis wächst wieder.
Ich bin von dort ausgezogen, wo andere Ferien machen. Vom Dorf auf dem Fuss der Jungfrau. Ich habe die Angst der Stadt nie gelernt. Dass man sich vor synthetischen Drogen und der Dunkelheit fürchten soll, vor fremden Männern und unpünktlichen Zügen. Ich kannte bloss die Angst in den Bergen. Ich wusste, zu welcher Zeit am Tag das Grollen eines Helikopters nichts Gutes zu heissen vermag. Ab dem Moment, wo die Sonne von den fremden Tälern hinter dem Horizont verschluckt wird und der Glast der Gletscher sich in die blaue Stunde verwandelt. Das Grollen, dumpf, lässt die Berge erzittern. Das Zittern, ganz leise, ist nur für ruhige Organe bemerkbar. Das Echo in den Felswänden schickt das Grollen der Rotoren zurück und hin und her und nie weiss man, wo genau sie schweben. Es gibt Zeiten am Tag, wo der Helikopter nur fliegt, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Wenn jemand verschwunden ist in den Weiden und Schatten der Berge, spurlos, und selbst die Hunde nichts gefunden haben mit ihren zarten Nasen. Oder wenn Blut lange unbemerkt in ein Hirn gesickert und ein Sprachzentrum ausgefallen ist. Zum Beispiel im Hirn meines Vaters. Immer dann will ich das Grollen eines Helikopters lieber nicht hören. Meine Knochen zittern mit. In den verschiedenen Sedimentschichten und Eisplatten liegen Geschichten begraben. Ich habe die Angst gelernt, dass sie abtragen und auftauen und zerbröseln und die Welt auf den Kopf stellen. Ich habe gelernt, nach dem Kriegsloch Ausschau zu halten, mich davor zu fürchten, dass es eines Morgens mit einer Eisschicht überzogen sei. Aber geschlossen hat sich das Loch seit langem nicht und es herrschen doch Kriege. Der Teufel ist wohl ausgezogen. Er hat den Berg, seinen Kokon, zurückgelassen. Dass ich die mir aus jugendlichem Leichtsinn verhassten Berge vermisse, merke ich immer erst, wenn ich mich wieder in ihrem Schoss befinde. Wenn man von einem Ort wegzieht, gehört man nie mehr richtig dazu. Dann ist man plötzlich fremd in der eigenen Heimat. Das gilt für den Teufel und mich.
Haltet mir die gottverdammten Berge vom Leib.
Der Berg, der diese Gletscher trägt, verdient eine Vorstellung. Er ist der höchste des Dreigestirns im Berner Oberland. Wie der zusammengelegte Körper einer ruhenden Frau liegt er da, seine Fühler bis über 4000 Meter über dem Meeresspiegel. Die Jungfrau. Sie ist bekannt für ihre Schönheit, ihre weisse Glasur, die von weitem seltsam weich und überwindbar wirkt. Der Silberhornspitz ist ihre Brust, darunter ihr Herz, zu Stein verwachsen. Die drei Grossen waren einst Riesen, die auf der Wengernalp lebten. Lebten nur für sich selbst. Von einem Berggeist, der auf Wanderschaft nach einem Kessel Milch fragte, verwandelt in Fels und Eis, als Bestrafung für die Verweigerung von Hilfsbereitschaft. Es ist, als könnte ich mit meinen Fingerkuppen über die hochpolierten Flanken der Jungfrau streichen. Sie zerbröckelt erst in tausend Teile, wenn man sich ihr nähert. Mehr Schrunden und Spalten öffnen sich mit jedem Meter, den die Zahnradbahn sich ihr nähert, sich an ihr hochschraubt. Und dann erst wird bemerkbar, dass man an ihr verloren geht. Wenn man von der Wengernalp aus an ihr hochschaut, zerdrückt sie einem den Atem. Es ist kaum auszuhalten. Wenn ich den Himmel jemals berühren sollte, dann von ihrem Gipfel aus. Erst von dort aus begreift man, was Täler sind. Sie sind die Lücken zwischen dem Erhabenen. Um den Tälern das Existenzrecht zu geben, teilte man ihnen Namen zu. Da unten, wo die Menschen wohnen und alles zertrampeln. Da unten, wo die Menschen jeden Stein schon umgedreht und jedes Geheimnis gelüftet haben. Da unten, wo die Menschen vor allem Angst haben, das sie nicht verstehen.
Die Welt über den Bäumen hingegen ist aus Geheimnissen gebaut. Oben, wo die Luft dünn in die Lungenflügel strömt und das Atmen schwerfällt, wo die Pupillen sich erweitern zu schwarzen Murmeln. Dort oben trägt die Jungfrau ein Loch im Bauch. Im Giessengletscher tut sich ein roher Graben auf, eine Mulde. Das Eis türmt sich den Rändern auf, wie sonst nirgends am Berg. Seit Jahrhunderten sprechen die Menschen aus dem Tal über diese Kluft, aber nur hinter vorgehaltenen Händen. Sechzig Meter breit soll die steinerne Lücke, der schwarze Felszahn im Eismantel, sein. In den vergangenen dreihundert Jahren hat sich das Loch immer wieder geschlossen, überflutet vom Gletscher, der wie ein samtenes Band vom Silberhorn her in die Trümmer darunter fliesst. Unerklärbar, über Nacht überzogen mit einer dicken Eisschicht. Sichtbar sogar für die Menschen weit weg zwischen den Seen. Erstmals bemerkt 1701, während der spanischen Erbfolgekriege. Dreizehn Jahre später öffnete sich das Loch pünktlich zum Ende dieser Kämpfe. Der gleiche Graben schloss sich für die Jahre des Siebzigerkrieges und der Weltkriege, während der Kubakrise, vor dem Einfall der russischen Armee in Afghanistan, während dem Iran-irakischen Krieg und der letzten Balkankriege vor mehr als zwanzig Jahren.
Unfähig zu begreifen, gaben ihm die Menschen aus den Tälern den Namen «Kriegsloch». Sie versuchten das Kriegsloch im Bauch der Jungfrau mit Vermutungen zu füllen, die irgendwann zu Wissen wurden. Es schliesst sich immer dann, wenn irgendwo auf der Welt ein Krieg ausbricht. Natürlich ist der Teufel nicht weit. Ich habe ihn selbst gesucht, weit oben. In diesem Loch haust er unter Schutt und Geröll, streckt gemein grinsend seine Nase aus der Nordflanke der Jungfrau und sein Lachen wird vom Föhn ins Tal getragen. Passt auf und lauscht, immer ehrfürchtig, mit einem Auge die Lücke im Blick. Ständig brechen Eisbrocken von der Oberlippe des Hängegletschers. Wenn es den Teufel nicht mehr braucht, das Leid auch ohne seine Hilfe ihre Schneise in der Welt hinterlässt, verzieht er sich zu den Innereien des Berges und schliesst das Tor zur Unterwelt. Hinterlässt nur knisterndes Kristallingestein und das ewige Eis wächst wieder.
Ich bin von dort ausgezogen, wo andere Ferien machen. Vom Dorf auf dem Fuss der Jungfrau. Ich habe die Angst der Stadt nie gelernt. Dass man sich vor synthetischen Drogen und der Dunkelheit fürchten soll, vor fremden Männern und unpünktlichen Zügen. Ich kannte bloss die Angst in den Bergen. Ich wusste, zu welcher Zeit am Tag das Grollen eines Helikopters nichts Gutes zu heissen vermag. Ab dem Moment, wo die Sonne von den fremden Tälern hinter dem Horizont verschluckt wird und der Glast der Gletscher sich in die blaue Stunde verwandelt. Das Grollen, dumpf, lässt die Berge erzittern. Das Zittern, ganz leise, ist nur für ruhige Organe bemerkbar. Das Echo in den Felswänden schickt das Grollen der Rotoren zurück und hin und her und nie weiss man, wo genau sie schweben. Es gibt Zeiten am Tag, wo der Helikopter nur fliegt, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Wenn jemand verschwunden ist in den Weiden und Schatten der Berge, spurlos, und selbst die Hunde nichts gefunden haben mit ihren zarten Nasen. Oder wenn Blut lange unbemerkt in ein Hirn gesickert und ein Sprachzentrum ausgefallen ist. Zum Beispiel im Hirn meines Vaters. Immer dann will ich das Grollen eines Helikopters lieber nicht hören. Meine Knochen zittern mit. In den verschiedenen Sedimentschichten und Eisplatten liegen Geschichten begraben. Ich habe die Angst gelernt, dass sie abtragen und auftauen und zerbröseln und die Welt auf den Kopf stellen. Ich habe gelernt, nach dem Kriegsloch Ausschau zu halten, mich davor zu fürchten, dass es eines Morgens mit einer Eisschicht überzogen sei. Aber geschlossen hat sich das Loch seit langem nicht und es herrschen doch Kriege. Der Teufel ist wohl ausgezogen. Er hat den Berg, seinen Kokon, zurückgelassen. Dass ich die mir aus jugendlichem Leichtsinn verhassten Berge vermisse, merke ich immer erst, wenn ich mich wieder in ihrem Schoss befinde. Wenn man von einem Ort wegzieht, gehört man nie mehr richtig dazu. Dann ist man plötzlich fremd in der eigenen Heimat. Das gilt für den Teufel und mich.
Haltet mir die gottverdammten Berge vom Leib.